Die Olympischen Spiele 2024 in Paris, insbesondere die überwältigende Eröffnungsfeier, haben meine Liebe zu der Stadt, aber auch zu Frankreich vertieft. Diese Liebe basiert weniger auf der Tatsache, dass meine Familie väterlicherseits aus dem Ort Fumay in der Champagne stammt - das ist zu lange her und somit abstrakt - sondern mit jeder Reise in alle möglichen Gegenden Frankreichs stetig gewachsen ist. Paris lernte ich das erste Mal durch einen Schüleraustausch kennen. An den Geruch der Metro kann ich mich heute noch erinnern. Danach folgten Orléans, Hendaye, Quiberon. Durch Freunde, die in Quiberon ein Häuschen besaßen, wurde die bretonische Insel schnell zu einem Sehnsuchtsort. Nicht, dass Quiberon ein besonders malerischer Ort wäre, nein, die Anziehungskraft ging von den Leuten aus, die man in jedem Sommer wieder traf, von der Côte Sauvage, Belle-Île, dem alten Hafen Port-Haliguen, und natürlich waren da die Strände, das Essen, Trinken, Gitarre spielen, in den Tag und die Nacht hinein leben. Anreise mal per Anhalter, mal mit Freunden in deren Auto. Als ich dann mein erstes Auto bekam, ein Fiat 500, den ich meinem Onkel Ernst für kleines Geld abkaufen konnte, führte der Weg, na klar, nach Quiberon.
In jenem Sommer reifte mein Entschluss, mich in einen Bretonen zu verwandeln. Mir war bewusst, eine solche Wesensveränderung findet zwar zunächst im Kopf statt, aber dort kann sie nicht bleiben. Der entscheidende Schritt bestand darin, sie nach außen hin zu dokumentieren.
Ich kaufte mir also eine bretonische Fischermütze, Farbe navy, dazu den klassischen Bretagne-Pullover, blau-beige geringelt, schöne Lederknöpfe auf der linken Schulter, und ein rotes Halstuch mit blauen Punkten.
Zum Gesamtkunstwerk fehlte mir noch eine Schachtel Gitanes Maïs und die Regionalzeitung "Ouest-France", die ich in einem Tabac erstand, bevor ich Richtung Grande Plage fuhr, das Auto irgendwo abstellte und mich zu Fuß zu dem hübschen Straßencafé an der Strandpromenade begab, gleich in der Kurve, beliebt bei Einheimischen wie bei Touristen.
Glück gehabt, einer der kleinen runden Tische war frei. Ich nahm Platz, drapierte Zigaretten und Zeitung gut sichtbar in der Tischmitte und bestellte einen Pernod. Pernod deshalb, weil in diesem Café nicht nur die Gläser, sondern auch die Wasserkaraffen den auffälligen Firmenschriftzug von Pernod trugen.
Die Bestellung kostete mich Überwindung, denn eigentlich vertrage ich keinen Pernod. Meine Zunge reagiert allergisch auf jeglichen Pastis, schwillt irgendwann an und wird schließlich völlig taub. Aber hier war das Opfer unumgänglich, ging es doch darum, so französisch wie irgend möglich in Erscheinung zu treten. Ich zündete mir eine Gitane Maïs an und vermisste sofort meine Gauloises, die ich im Auto zurückgelassen hatte. Gauloises fallen in Frankreich keinem Menschen auf, die Gitanes Maïs hingegen, mit starkem gelbem Maispapier umwickelt, schon. Auch das Rauchen selbst ist anders. Bei einer Gitane Maïs macht man zwei, drei Züge, dann geht sie aus und man lässt sie im Mundwinkel kleben. Will man wieder einen Zug machen, Feuerzeug an, zwei, drei Züge, aus.
Da saß ich nun, tat so, als läse ich die "Ouest-France", behielt jedoch durch meine Sonnenbrille die Passanten im Blick, in gespannter Erwartung, ob nicht eine junge, attraktive Französin nach einem freien Platz Ausschau hielte und mich ansprechen würde. Für diesen Fall hatte ich sprachlich vorgesorgt. Um nicht sofort als ausländischer Touri entlarvt zu werden, hatte ich mir einen Satz zurechtgelegt, der dem französischen Slang (Argot) zuzuordnen ist.
Es ist der Satz, mit dem der Roman "Zazie in der Metro" von Raymond Queneau beginnt:
"Doukipudonktan" (d'où qu'il pue donc tant), in der deutschen Übersetzung "Fonwostinktsnso?"
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Nichtfranzose diesen Satz kennt, ist gering. Damit würde ich schon mal punkten. Andererseits waren mir die Risiken einer solchen Gesprächseröffnung durchaus bewusst. Entweder die junge attraktive Französin würde dahinschmelzen, sich vorstellen - sie: "Céline, ich "Dudule" - und mich anhimmeln, oder aber sie würde ihren Freundinnen später erzählen, dass sie einem bretonischen Arschloch eine Karaffe Wasser über den Kopf geschüttet hätte. Für den zweiten Fall hatte ich mich sprachlich gewappnet und hätte ganz cool gesagt: "Mort de rire" (Ich lach mich tot). Doch weder das eine noch das andere geschah. Ich hatte also Zeit zu beobachten, wie zwei Tischchen weiter ein gelangweiltes Sonnenbrandgesicht mit T-Shirt, Bermudahose und Baseballkappe mit Schirm nach hinten bei seinem Bier saß. Und dann passierte etwas Erstaunliches.
Ein anderer Typ in ähnlichem Aufzug blieb bei der Rothaut stehen und sagte in astreinem Hessisch: "Ei Gude, wie?" Sein Gegenüber schaute nicht einmal sonderlich überrascht auf und antwortete:
"Gude. Wer bist du dann?"
"Isch bin dä Rüdischä aus Aschebersch. Un' du?"
"Isch bin dä Günni aus Offebach."
Ich traute meinen Ohren nicht. Das war doch praktisch unmöglich! Da erkannten sich also zwei junge Burschen gegenseitig als hessische Landsleute, ohne vorher ein einziges Wort ausgetauscht zu haben! Sofortige Verbrüderung und die Bestellung von Bier.
Ich zog meine Bretonisch-Werdung eisern durch, rauchte die vierte oder fünfte Gitane Maïs und bestellte einen weiteren Pernod, obwohl mir meine Zunge sagte, tu's nicht. Und keine junge attraktive Französin in Sicht. Ich erweiterte meine Altersrange. So jung brauchte sie plötzlich nicht mehr zu sein.
Am Hessentisch tat sich etwas. Die beiden Landsleute waren aktiv geworden und baggerten in bestem hessischen Englisch eine Passantin an: "Mademoiselle, sit down here, have a drink, we pay!"
Die Masche zog tatsächlich. Eine niedlich aussehende Französin folgte der Einladung. Innerhalb von Minuten herrschte eine Bombenstimmung am Tisch, man redete mit Händen und Füßen, lachte sich schlapp.
Inzwischen kamen mir ernsthafte Zweifel, ob ich meinen Plan aufrechterhalten sollte. Meine Zunge war erwartungsgemäß angeschwollen und wurde arg pelzig. Mir war flau im Magen und die Gitanes Maïs kratzten fürchterlich im Hals. Von panischen Fluchtgedanken ergriffen, winkte ich dem Kellner, um zu zahlen. Als der mein Winken ignorierte, sah ich mich gezwungen zu rufen: "Garçon, l'addition s'il vous plaît!"
Es folgte ein Aussprachedesaster ersten Ranges. Das "p" in Verbindung mit dem "l" im Wort "plaît" führte dazu, dass meine Zunge auf unappetitlichem Weg meinen Mundraum verließ. Die Französin am Hessentisch hatte das mitbekommen, zeigte mit dem Finger auf mich und fiel vor Lachen beinahe von ihrem Stuhl.
Desillusioniert und gedemütigt schleppte ich mich zu meinem Fiat 500, an dessen Heck natürlich längst ein ovaler Aufkleber prangte: "Bzh", was eine Abkürzung für "Breizh-Izel" ist, also das keltische Wort für "Klein-Britannien" oder "Nieder-Britannien". Das Kürzel galt als Schlachtruf der bretonischen Separatisten, die die Unabhängigkeit der Bretagne von Frankreich forderten. Das unterstützte ich natürlich. Ich hatte mir sogar ein paar Brocken Keltisch angeeignet, um zu zeigen, dass mein Engagement über einen Autoaufkleber hinaus ging. In Port-Haliguen sprach ich einen alten Fischer an, der leider ziemlich taub war und dem ich mehrfach laut "Ty ru" ("Rotes Haus") ins Ohr brüllte. Er quittierte meine keltische Annäherung mit einem verständnislosen Blick, um mir schließlich auf Französisch zu erklären, dass er weit und breit kein rotes Haus sähe und auch keines kenne. Das muss man sich einmal vorstellen, da setzte ich mich bedingungslos ein für die Unabhängigkeit seiner Heimat und der ließ mich eiskalt auflaufen.
Eines ist sicher. Hätte ich damals den Kleber der "Letzten Generation" gehabt, ich hätte mich an der Strandpromenade vor dem Straßencafé festgeklebt und unablässig "Breizh-Izel" gerufen. Dann hätte ich wahrscheinlich ein bretonisches Irrenhaus von innen kennengelernt, aber immerhin als mutmaßlicher Bretone.
Stand heute: die Bretagne ist immer noch französisch und ich bin immer noch deutsch.
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